Die Perle am Meeresgrund

Am tiefsten, blauen Meeresgrund, tausende Meter entfernt vom letzten Lichtstrahl, den die Sonne erreichen konnte, lebte in einer Symbiose verschiedenstes Meeresgetier. Manches passte sich optisch seiner Umgebung an oder verharrte starr in einer Position, in der es unbemerkt seinem Dasein fristen konnte. Anderes verwirbelte seine Tentakel synchron mit jeder Meeresbewegung, sodass es nur so blubberte und sprudelte.

 

Hinter einer Ansammlung von purpurfarbenen Korallen entstand an einem Spätsommertag eine kleine Perle. Geschützt in der Muschel hätte sie über Jahrzehnte dort am Meeresgrund verweilen können, würde die Erde keine Stunden kennen, und das Meer keine Gezeiten.

 

Doch durch die unabdingbare Bewegung der Wellen, in Zusammenkunft mit den Kräften des Windes kam es, dass die Muschel immer weiter an die Wasseroberfläche trieb. So lag sie, gewärmt von den Strahlen der Sonne, gekühlt von den Wogen des Meeres, im flach abfallenden Sand.

 

Und die Zeit verging, und die Erde drehte unbemerkt ihre Kreise.

 

Eines Tages, es war bereits Herbst geworden, umfassten sanfte Finger die Muschel mit ihrem besonderen Inhalt und entfernten sie aus dem weichen Sand. Von nun an lag die Muschel in einem kleinen Beutel, zusammen mit anderen leblosen Schalen. Doch sie selbst lebte, und die Perle in ihrem Inneren war noch zu klein für ein Dasein außerhalb des Meeres. 

 

Als ein Mädchen, kaum älter als ein paar Jahre, seinen Fund inspizierte, reflektierte sich in seinem Augenwinkel ein besonderer Glanz: In einer der Muscheln, von Außen nicht mehr als abgeblätterter Kalk, befand sich eine Perle, so schön, als hätte das Mädchen mit eigenen Augen nie etwas Wertvolleres gesehen.

 

Bestimmt ließe sich die Perle teuer verkaufen, oder man könne sich selbst ein schönes Schmuckstück daraus machen, sagten die Eltern des Mädchens, als sie den Fund betrachteten. Doch das Kind hatte Erbarmen mit dem lebenden Meeresbewohner und dem besonderen Schatz in seinem Innersten. So begab es sich am nächsten Tag zurück an den Strand, um dem Meer die Muschel zurückzugeben. Es wartete auf den richtigen Moment und legte die Muschel behutsam zurück in den weichen Sand.

 

Als die Flut kam wurde die Muschel mit der Strömung weggesaugt, als wäre es das einzige Ziel des Meeres, sie zu verschlucken. Immer tiefer zog die Strömung das Meeresgut in sich hinein, sodass es schon bald von der Netzhaut des Mädchens verschwand.

 

Tausende Meter entfernt vom Schauspiel der Gezeiten, klebte eine Muschel mit ihrem besonderem Inhalt unterhalb eines Felsens, der ihr Schutz bot. So würde auch die kleine Perle nie wieder das Tageslicht sehen, und keine Menschenseele würde sie mehr zu Gesicht bekommen. Doch was war wichtiger als der Schutz und die Heimat, und die Zeit, die man selbst brauchte.

 

Tag ein, Tag aus, spülte das Meer seine leeren Schalen aus, als entledige es sich von Müll und Unrat.

 

Und die Jahre vergingen. Und die Erde drehte ihre Kreise. Unbemerkt, am tiefsten, blauen Meeresgrund.

 

Mittwoch, 01.03.2017


Stadt der Zwiebeltürme

An einem weit entfernten Ort stand ein Palast mit Zwiebeltürmen. Sie ragten in den Himmel, wie unsichtbare Leitern, von der Erde direkt in die Wolken hinein. Nur an sonnigen Tagen erspähte man - stand man im richtigen Winkel und drückte seine Augen ganz leicht zusammen - die Spitze des Turmes, unter dem man sich befand. Von allen Teilen des Landes besuchten die Menschen die Stadt, um einen kurzen Blick auf das imposante Bauwerk zu werfen. An einem klaren Tag leuchteten die Kacheln des Gebäudes in perlmuttfarbenen Nuancen von Lila bis Rot. Doch es waren nicht die Sommertage, die die Pilger für ihre Reise wählten. Hörte man die Leute reden, dass sich am Himmel alsbald Regenwolken bilden würden, pilgerten sie zu hundertfach in den entfernten Ort. Denn mit den ersten Tropfen, die vom Himmel fielen, verwandelten sich die Kacheln am Palast zu Glas. Darin spiegelten sich - je mehr Regen fiel - nicht nur die anderen Zwiebeltürme, sondern auch die Gesichter der Menschen, die hineinblickten. So kreierte sich wie von Zauberhand eine Darstellung desjenigen, der in den Spiegel sah, zeigte jedoch nicht sein Spiegelbild, sondern ein Abbild seiner schönsten Version. An den Wänden des Palastes verwandelten sich die hässlichsten Fratzen zu makellosen Visagen, doch waren die Regentropfen erst einmal versiegt, so gelang dem Besucher nie wieder der Blick auf die Perfektion seiner Selbst.

 

Weit und breit sprach man vom Wunder des Zwiebelturms und seiner Kraft der Verwandlung. Von aller Herren Länder bereisten die Menschen den fremden Ort, um für einen kurzen Moment einen Blick auf die eigene Schönheit erhaschen zu können. So machten sie sich in Scharen auf die Reise, jedes Mal wenn der Regen fiel.

 

Als die Tage wieder länger wurden, zogen die Luftmassen aus den verschiedensten Richtungen über das Land herein, und bündelten sich über der Stadt wie ein wütender Energieball. Schon bald erreichte ein Wirbelsturm den für Besucher beliebten Ort und legte nicht nur die Häuser in Schutt und Asche, sondern auch den schillernden Palast mit seinen magischen Türmen, die zerbarsten wie brüchiges Glas. So zeigte es sich, dass die Bewohner des Ortes nicht nur ihr gesamtes Hab und Gut auf einen Schlag verloren, sondern auch seine wertvollen Besucher. Was vom einst magischen Denkmal blieb, waren nur mehr die Scherben der Kacheln in Rot, Gelb und Blau.

 

Hörten die Menschen in den anderen Städten und Ländern von der Verwüstung der Türme, so stürmten sie zu Hauf in den namhaften Ort, um die letzten Scherben einzusammeln, mit Hilfe derer sie hofften, ihre eigene Schönheit konservieren zu können. Doch mit jedem Blick, den die Fremden in die Scherben warfen, zeigte sich Ihnen ein noch abscheulicheres Spiegelbild. Rasch einigten sie sich, dass Ihre einzige Hoffnung darin bestünde, die Türme wieder von Grunde auf aufzubauen und die Scherben erneut zusammenzufügen, damit die Kacheln wieder die Fähigkeit bekämen, die schönsten Gesichter zu reflektieren. Es verstrichen Wochen, bis sich endlich ein Ergebnis zeigte und die Türme wieder entfernt an ihr Original erinnerten.

 

Als der erste Regen kam, drängten sich die Menschen vor die sich zu Glas verwandelnden Türme, doch was ihnen entgegenblickte, war nicht mehr als die reine Projektion ihrer Selbst. Die wochenlangen Mühen schienen umsonst gewesen. Doch es gelang den Fremden nicht, den Verlust ihrer Schönheit zu akzeptieren. Tag und Nacht arbeiteten sie an der Errichtung von neuen Palasttürmen, immer in der Hoffnung dass es diese Scherben waren, die ihre Schönheit zu reflektieren vermochten.

 

Es waren Jahre vergangen, seit die ersten Türme in der weit entfernten Stadt von den Fremden in Schwerstarbeit errichtet wurden. Als in der Stadt kein freier Platz mehr zu sein schien, wagten es die Arbeitenden, ein erstes Mal von ihrem Projekt aufzusehen. Was sie sahen war eine Stadt, voll hunderter prächtiger Zwiebeltürme, in allen schimmernden Farben und originellsten Formen. Was sie im Wunsch auf ihre eigene Perfektion errichtet hatten, war ein Ort, der für immer als "Stadt der tausend Zwiebeltürme" in den Gedächtnissen der Menschen bleiben sollte. Schimmerte die Stadt bei Sonnenlicht in perlmuttfarbenem Lichterglanz, als gäbe es nichts von größerem Strahlen, so wagte es nie wieder jemand, die Stadt bei Regen zu besuchen, und der wundersame Blick in den Spiegel der Schönheit blieb für Jahrtausende nicht mehr, als nur Erinnerung.

 

Sonntag, 12.02.2017


Zwei Wege

 

Auf einer Reise gibt es zwei Wege.

Der eine ist gut beschildert, von leicht begehbarer Beschaffenheit, gepflastert, er verläuft ohne irritierende Abzweigungen, eine Zeit lang geradeaus bis ans Ziel. Auf der einen Seite säumt ihn eine Wiese, ein paar surrende Insekten im vom Frühling sattgrün gefärbten Gras. Auf der anderen Seite die sanften Wogen des Meeres, sie verpassen dem Reisenden im Vorbeigehen eine leichte Brise auf der Haut.

 

Der Einfall des Sonnenlichts im Lichtkegel des Wassers, einem Glitzerregen gleich. Ein erster Hauch von Sommer. Auf dem langen Weg bleibt genügend Zeit für eine kurze Pause im weichen Gras, den Blick gerichtet auf vorbeiziehende Wolken, genügend Zeit für Phantasie. Ein Frosch überquert leichtfüßig den Weg. Der Sprung ins kühle Nass, ein paar Tropfen auf der warmen Haut. Ein Gefühl von Neubeginn. In der Ferne die Verheißung, schon bald ist sie erreicht.

Der andere Weg verläuft uneben, steinig, er ist kurvig und man sieht im Vorhinein nicht, welche Gefahr hinter der nächsten Wegbiegung lauert. Der Weg führt durch den tiefsten Wald, knorrige Bäume wie menschenverzerrte Gestalten. Ein unbekanntes Knistern im Morast. Ein Wegweiser ins Nirgendwo. Der Reisende spürt eine Last auf den Schultern, gleich einem dunklen Geist. Er weiß nicht wohin der Pfad ihn führt, ob es einen Ausweg gibt. Immer wieder die gleichen Orte, immer wieder die selben Plätze - das verwundete Reh, am Waldesrand. Die Zeiger auf der Uhr, als Hoffnung auf einen letzten Orientierungspunkt, sie stehen still. Wie aus dem Nichts das Tor zum Ausgang. Das langersehnte Ziel - eine optische Täuschung? Realität oder nur Phantasie? Ein schweres Tor mit Dornen, dahinter ein Mysterium.

 

Auf einer Reise gibt es zwei Wege. Für welchen Weg man auserkoren wird, und ob er bis ans Ziel führt, ist ungewiss. Die Mehrzahl der Reisenden landet sanft auf Weg 1. Der Ein odere Andere hat weniger Glück, er fällt aus der Reihe und landet auf Weg 2.

 

Der Geist auf den Schultern meldet sich zu Wort. 

"Welcher Weg ist der einfachere?", fragt er.

"Weg 1", antwortet der Reisende.

"Und welcher Weg ist der bessere?"

Wieder ist "Weg 1" die Antwort.

Der Geist erhebt sich von den Schultern des Reisenden: "Auf den ersten Blick mag Weg 1 der einfachere und bessere Weg sein. Doch eine Reise ist immer ohne Selbstverständlichkeiten. Nur der sich aus dem Dickicht des Waldes kämpfen muss, erlangt die Kraft sich wie ein Phönix aus der Asche zu erheben. Nur wer Weg 2 beschreitet, dem gelingt ein kurzer Blick über den Himmel und die Erde und alles Göttliche in ihr.

 

Dienstag, 31.01.2017