Vier Tage später haben wir einen Termin mit einer Ärztin auf der Neonatologie, um uns über den partiellen Balkendefekt unseres Babys ein genaueres Bild zu verschaffen. Wir haben zwar im Internet bereits einiges über Balkendefekte gelesen, möchten aber die Chance nutzen, uns persönlich eine Expertenmeinung zum Befund unseres Babys einzuholen. "Balkendefekte alleine sind meist nicht das Problem", beginnt die Oberärztin zu berichten. "50% der Kinder mit Balkendefekten lernen unauffällig und können normal zu Schule gehen. Die anderen 50% weisen Lernschwierigkeiten oder andere Entwicklungsverzögerungen auf und der Besuch einer normalen Schule ist oft nicht möglich. Bei schwereren geistigen Behinderungen kommen jedoch oft noch andere Fehlbildungen im Gehirn dazu."...
Wir erkundigen uns nach dem Teil des Balkens, der unserem Baby fehlt. Die Ärztin nimmt erneut kurz Einsicht in unseren Befund. "Dieser vordere Teil ist für Sprache und Motorik zuständig. Ihr Kind wird vermutlich nicht alle Wörter sagen können und sprachliche Schwierigkeiten aufweisen. Aufgrund der Einschränkungen in der Motorik wird es möglicherweise nicht auf einem Bein hüpfen können usw. Wir betrachten hier natürlich immer den Befund in seiner Gesamtheit. Bei Ihrem Baby ist es eine Kombination des Balkendefekts mit einem Herzfehler und der Wachstumsretardierung. Aufgrund der Größe ist bei Ihrem Baby natürlich auch nicht alles so gut durchblutet und es kommt zu Entwicklungsverzögerungen. Ich sehe Ihr Kind auf einer Skala zwischen einem gesunden und einem schwer behinderten Kind etwa in der Mitte, mit Tendenz zum gesunden."
"Das Gehirn des Menschen ist in seiner Komplexität noch sehr wenig erforscht. Der Mensch lernt im Laufe seines Lebens auch nie aus, das Gehirn hört nie auf sich zu entwickeln und Informationen und Erfahrungen zu speichern. Außerdem ist es oft in der Lage Verbindungen die ihm fehlen anderweitig zu umgehen. Ihr Baby ist noch ganz am Beginn seines Lebens, man kann zum jetzigen Zeitpunkt natürlich nicht sagen, wie sich sein Gehirn weiterentwickelt. Gerade deshalb ist es besonders wichtig, Ihr Baby von Anfang an zu fördern. Es gibt hier im Spital viele verschiedene Angebote der Förderung, wie etwa Ergotherapie, Logopädie usw., die wir Ihnen empfehlen in Anspruch zu nehmen, wenn es so weit ist."
Bevor wir die Station verlassen, meint die Ärztin noch, dass es der Fluch der heutigen Medizin wäre, dass wir schon vorgeburtlich so viel über das Kind in Erfahrung bringen, anstatt die Entwicklungsverzögerung erst zu bemerken, wenn das Kind auf der Welt ist. Wir uns Sorgen machen, obwohl wir es nicht ändern können.
Nach dem Termin auf der Neonatologie ist die Stimmung von meinem Freund und mir komplett unterschiedlich. Während ich beruhigt bin, dass die Ärztin uns kein schwer behindertes Kind prognostiziert hat, ist mein Freund alles andere als guter Dinge. Unser Kind wird nie normal zur Schule gehen können, ich werde für nichts anderes mehr Zeit haben als für unser Kind, werde von einer Förderungseinrichtung zur anderen fahren müssen, sagt er. Dem muss ich mir bewusst sein.
Könnte man sich zwischen einem gesunden und einem kranken Kind entscheiden, jeder würde natürlich das gesunde wählen. Auch mir wäre es lieber, unser Kind wäre nicht krank und ich hätte die Aussicht auf ein normales Leben mit einem gesunden Kind ohne Spitalsbesuche und ohne die ständige Angst, es könnte etwas schief gehen. Doch für ein gesundes Kind gibt es keine Garantie. Nur 5% der Behinderungen sind angeboren, die Wahrscheinlichkeit ist um ein vielfaches höher, dass bei der Geburt etwas schiefgeht, oder im Laufe des Lebens etwas passiert, was zu einer Behinderung führt. Oder die Ärzte sprechen von einem gesunden Kind, und am Ende wurde doch etwas übersehen. Würde ich mein Kind, würde ihm so etwas widerfahren, auch hergeben wollen und mich von einem Tag auf den anderen entschließen es nicht mehr zu lieben? Sagen, es sei mir zu viel Arbeit und ich sei der Situation nicht gewachsen? Auch wenn manche auf den ersten Blick meinen würden, es wäre leichter sich gegen das Kind zu entscheiden, so habe ich, bin ich der Meinung, nicht das Recht, mich meiner Verantwortung zu entziehen, so lange unser Kind die Chancen auf ein lebenswertes Leben hat. Darum verkündeten wir am 18. Jänner 2017 eine Entscheidung, die uns schon lange klar war: Wir würden unser Baby behalten und alles in unserer Macht stehende tun um ihm ein gutes Leben zu ermöglichen.
Kommentar schreiben